Wir sind der Wind

Wieder einmal durfte ich mir meinen Anschiss von Rektor Bachmann abholen. Es sollte mein letzter Anschiss werden, denn dieses mal, so seine Worte, hätte ich über alle Stränge geschlagen…

Es erstaunte mich immer wieder, dass Bachmann seine Standpauke noch immer mit dem selben Eifer auf mich abfeuern konnte wie damals an meinem ersten Tag, hier auf der E.-Musk School im Geniusdistrikt 9. Bachmann war wie ein Pulverfass ohne Boden, er konnte reden wie ein Wasserfall, auch in diesem Moment, als wir in seinem Office saßen und das übliche Prozedere über uns ergehen ließen: Er redete genauso ausdauernd, wie ich aus dem Fenster sah. Draußen flog ein bunter Schwarm fliegender Windkraftwerke über den Schulhof hinweg, die sogenannten Windeier. Über die Windeier werden wir im Laufe dieser Geschichte noch zu sprechen kommen, doch bleiben wir bei der Sache: Der Anschiss von Rektor Bachmann, verursacht meiner Wenigkeit zuwegen.

Nun, als Kunstlehrer bin ich schon aus beruflichen Gründen skeptisch gegenüber Regeln. Kunst verlangt eine Distanz zu den Dingen; genau das möchte ich meinen Kids mitgeben; ihnen beibringen was es bedeutet, gefangen zu sein, zwischen Fantasie und Realität. Vielleicht denke ich komisch, aber für mich ist das Regelbrechen eine Kunst für sich. Sowas will gelernt sein! Und belohnt werden sollte es! Aber erzähl das mal deinem Vorgesetzten.

Möglicherweise interessiert es dich, was meine Schüler und ich denn dieses mal ausgeheckt haben. Ich meine, man kriegt den Anschiss des Rektors ja nicht für Lau. Na schön, ich möchte es dir erzählen: Es begann mit einem unbeschriebenen Blatt Papier.

An einem glühend heißen Nachmittag des Hochsommers 2033 verbrachten Frau Moleski und ich unsere Pause in der Schulmensa. Im Gegensatz zu den unmenschlichen Temperaturen im Freien, hielten sich die Temperaturen hier drinnen auf konstante 21 Grad; Ein Verdienst seitens Herrn Steijk und seinen Kryonikschülern, die im Rahmen des JOWL-Projektes Wölfe für die Nachwelt konservierten, und aus gegebenen Anlass auch gleich noch die Kühlung der Schule auf Vordermann brachten.

Frau Moleski schlabberte an ihrem Ingwer-Eis. Vor dem Fenster sah ich einen weißen Schwarm von fliegenden Eiern. Ich sah sie oft an diesem Tag; vielleicht, weil ich an diesem Tag besonders oft aus dem Fenster sah.

„Wem gehören die eigentlich?“, fragte ich mit einem Fingerzeig auf den Schwarm vorm Fenster. „Sind das die neuen Drohnen aus unserer Luft- und Raumfahrttechnik?“

Frau Moleski erklärte es mir: „Das sind Windkraftwerke.“

Das da sind Windkraftwerke?“

„Winzige, fliegende, smarte Kraftwerke.“ Frau Moleski nahm einen großen Bissen von ihrem Ingwer-Eis. Schon der Anblick bereitete mir Zahnschmerzen — weil ich nämlich allergisch auf Ingwer reagiere. „Die Windkraftwerke sind so klein wie Tennisbälle und so leicht wie Federn“, erklärte Frau Moleski. „Fliegende Nanotechnik.“

„Ich versteh nicht, wie das funktionieren soll.“, sagte ich.

„Ist ganz einfach — Man lege die Kraftwerke irgendwo ins Freie. Sie füllen ihre Akkus mit dem Wind, und wenn die Akkus voll sind, fliegen sie zur Sammelstation. Mit der richtigen Programmierung können die Kraftwerke die Luftströmungen so nutzen, dass auf dem Weg zur Sammelstation möglichst wenig Strom verbraucht wird. Man könne die Sammelstation aber auch zu den Kraftwerken fahren. Und wenn die Kraftwerke ihre Akkus leer gemacht haben, lassen sie sich von der nächsten Windböe durch die Luft wehen und landen irgendwo dort, wohin der Wind sie trägt.“

Wie aufs Stichwort glitt der Schwarm an den Fenstern vorbei. Ganz langsam flogen die vielen hundert Windkraftwerke auf konstanter Höhe und mit festem Kurs. Ich brauchte etwas Fantasie, um mir vorstellen zu können, dass diese Windeier miteinander sprachen. Es musste irgendein Algorithmus in ihnen geben, der sie als eine Einheit dirigierte. Oder dirigierte der Algorithmus von außerhalb? Alles war möglich.

„Ich muss los.“, sagte ich. „Meine Kunststunde fängt gleich an.“

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Über die Jahre als Kunstlehrer habe ich gelernt, dass Leidenschaft etwas ist, dass ich nicht beibringen kann. Höchstens kann ich sie wachsen lassen, ihr einen Nährboden zur Verfügung stellen, und dann blüht sie wie von selbst, entfernt sich ihres Bodens und streckt sich in die Wolken, weiter und weiter und weiter. Ich verzichte darauf, meinen Schülern etwas über Farbenlehre beizubringen, oder über die korrekte Darstellung von Schatten. Meine Schüler sollen ihre eigenen Farben entdecken, über ihre eigenen Schatten springen.

In dieser Woche stand folgende Frage auf dem Whiteboard im Kunstraum: „Kannst du mit deinen Händen sehen?“ Natürlich beschränkte sich die Antwort nicht auf ein Ja oder Nein, sondern sollte auf einem Bild festgehalten werden. „So ganz ohne Formalitäten kann es doch nicht gehen dürfen.“ — Klassischer Leitsatz seitens Bachmann dem sein Rektor.

Ich sah meinen Schülern über die Schultern: Charlene betastete das Gesicht von Bethany mit geschlossenen Augen. Jaymee hämmerte im Maschinengewehrtempo auf sein Laptop, ohne hinzusehen. Nisi stand auf dem Tisch und streckte sich zur Decke (Ich glaube, dass sie versuchte, sich ihres Bodens zu entledigen). Und dann war da noch das Projekt von Léon: Er malte ein Aktbild auf der geistigen Vorlage von — soweit ich das beurteilen konnte — Charlene. Wäre Rektor Bachmann in diesem Moment reingeplatzt, geräte ich in arge Erklärungsnot, zumal mein Argument, dass Kunst auch Zirkus sein darf, beim Bachmann nicht durchkäme.

Ich setzte mich an meinen Lehrertisch und amüsierte mich am Zirkus meiner Schüler. Ein bisschen neidisch darüber, dass mir meine kindliche Leichtfüßigkeit von Jahr zu Jahr abhanden kam, konnte ich mir mein Schmunzeln aber dann doch nicht verkneifen. Es war erheiternd, wie die kleinen Bälger so vor sich hin blödelten. Ihnen liegt die Welt noch zu Füßen, sie dürfen Fehler machen, sie sollen Fehler machen solange sie noch jung sind, und blödeln sollen sie mit Leib und Seele. Ihnen werden die öden Jobs erspart bleiben, durch die ich mich meinerzeit quälen musste: Als Kassierer, als Postbote, als Taxifahrer, als Tellerwäscher… All das haben wir auf die Maschinen abgewälzt; sie sind die besseren Roboter.

Ich sah aus dem Fenster. Und da war er wieder: Der Eierschwarm über den grünbewachsenen Wohncontainertürmen. Ein schwacher Wind schleppte die Wolke der tausend Mikrokraftwerke über die Dachgärten, es ging ganz gemächlich zu. Fast schon ein bisschen langweilig, wie die Eier so träge durch die Luft trieben. Und überhaupt: So ganz in Weiß machten die Kraftwerke nicht viel her. Sie hatten keine Farbe, keine Ecken und Kanten, sahen alle gleich aus. Diese Einheitlichkeit ging mir gegen den Strich. Hätte man den Windeiern nicht wenigstens etwas Persönlichkeit geben können? Sind Weiße Oberflächen nicht dazu da, sie mit Farben zu füllen?

Da kam mir eine Idee. Im Schrank für Kunstutensilien hatten wir noch einen ganzen Wurf an Eddings in allen Farben, das Wetter war auf unserer Seite, und als hätte die Inspiration nur auf uns gewartet, war da noch der Schwarm der vielen tausend Kraftwerke in unmittelbarer Nähe. Die Umstände fügten sich zu einem gesamtheitlichen Puzzle. Ich sah das Kunstwerk vor meinem geistigen Auge.

Ich stellte mich vor die Klasse und klatschte zweimal in die Hände. „Leute, hier drinnen ist es zu warm! Wir verlegen den Unterricht nach draußen. Holt eure Eddings!“

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Meine Schüler und ich, wir fanden die Kraftwerke auf dem obersten Parkdeck des Parkhauses unserer Schule. Assistiert hat uns eine App, die uns die Koordinaten des Schwarms in Echtzeit mitteilte. Die Sonne knallte in siedenden Temperaturen durch den wolkenlosen Himmel. Ich verschmolz mit meinen Klamotten zu einer schwitzigen Masse.

Übrigens: Weil es kein Bedarf mehr nach Parkplätzen gab, blieb auch das Parkhaus von seinem ursprünglichen Zweck befreit. So wurde dieser Betonklotz zu einem Skatepark umfunktioniert, und manchmal sah ich Obdachlose hinter den vollgesprayten Säulen campieren, oder sie saßen im Schneidersitz auf dem Boden und tippten auf ihren Handys herum, oder sie machten Kickflips auf den geklauten Hoverboards.

Die Windkraftwerke versammelten sich auf dem Geländer und richteten ihre Rotoren auf den Horizont. Kein einziges Geräusch ging von ihnen aus, nicht mal das Rauschen der Rotoren oder der Elektronik. Sie waren still geworden, still wie so vieles, was der technische Fortschritt ins Auge nahm. Trotz der Friedlichkeit, die von den Kraftwerken ausging, konnten wir uns sicher sein, dass sie miteinander kommunizierten, jenseits des Frequenzspektrums menschlicher Ohren. Bestimmt befragten sie sich gegenseitig nach ihren Akkuständen, und würden alle Akkus voll geladen sein, wäre der Schwarm wohl ins Blaue des Himmels getaucht und verschwunden. Wir mussten uns beeilen.

„Glaubt ihr, dass die uns hören können?“, fragte Clara.

„Nee!“, sagte Léon. „Das sind doch keine Vögel!“

„Aber was ist, wenn die uns für Angreifer halten?“, fragte Clara.

„Genau.“, sagte Jumbo. „Und wieso bleiben die am Boden kleben? Die müssten doch rollen.“

„Machen die den Strom für die totale Überwachung?“

„Ich will eins mit nach Hause nehmen!“

Ich fuhr dazwischen: „Leute Leute, eins nach dem anderen. Guckt mal im Internet, was dort so über die Dinger steht.“

„Ach, das ist doch Quatsch!“, rief Léon, und dann marschierte er schnurstracks auf das Geländer zu. Er riss eines der Kraftwerke vom Geländer, drehte sich zu uns herum und hielt es in die Höhe.

„Guckt mal, wie dumm die sind!“, rief er. „Die dummen Eier sind dumm!“

Vom Kraftwerk in seiner Hand ging nicht die leiseste Regung aus. Wir konnten uns nähern. Diejenigen von uns, die sich trauten, besahen sich die Windkraftwerke aus nächster Nähe. Nisi beispielsweise blieb zurück: Sie traute den fliegenden Eiern nicht.

Ich nahm eines der Windeier vom Geländer, nahm es genauer unter die Lupe. Die Oberfläche war von zahllosen winzigen Löchern durchsetzt. Durch die Löcher konnte ich im inneren des Eis einen Rotor erkennen, der mit Mikrodraht an einem Chip verbunden war. Der Rotor drehte sich für die Windverhältnisse viel zu schnell. Es konnte nicht angehen, dass die milden Winde hier oben auf dem Parkdeck für dermaßen schnelle Rotordrehungen sorgen konnten. Vielleicht war es ja nicht der Wind, der die Rotoren antrieb, sondern die Rotoren trieben den Wind an?

Mir wäre vor Schreck fast das Kraftwerk aus der Hand gefallen, als ich ein Mädchen schreien hörte. Tassena. Ihr klebte ein Windei an der Hand, sie konnte sich nicht losreißen, das Ding haftete unerbittlich, dass Tassena kreischte, mit ihren Händen fuchtelte, panisch, mir plumpste das Herz in die Hose.

„Mach das weg mach das weg mach das weg!“, rief Tassena.

Wie auf Autopilot rannte ich zu ihr rüber und zog das Windei aus ihrer Hand. Dem Anschein nach konnten die Kraftwerke nicht nur Energie tanken und fliegen, sondern auch kleben. An der Unterseite des Eies war eine Art Flaum angebracht, ein Gefasere aus Fäden, jedes von ihnen so lang wie mein Zeigefinger. Offensichtlich war der Flaum harmlos, denn auf Tassena‘s Hand waren keine Rückstände zu sehen, und das Mädchen hatte sich schnell wieder beruhigt. Schnell dämmerte mir, dass der Flaum an den Windeiern für die Bodenhaftung sorgte, damit die Eier nicht einfach so fortrollten. Sie blieben. Sie hinterließen auf subtile Weise.

Tassena blieb unverletzt, doch hatte ihr die Szene einen Schrecken eingejagt, sodass sie den Rest der Kunststunde am anderen Ende des Parkdecks zusammen mit Nisi eine regenbogenfarbene Tetrade auf den Boden zeichnete. Alle anderen Schüler begegneten den Windeiern mit Interesse, und das waren beste Voraussetzungen für unser Kunstprojekt. Wir hatten bunte Eddings, eine halbe Kunststunde, und der Schwarm der Windeier war so Weiß wie die Wolken.

Wir bemalten die Wolken.

„Dieses mal sind Sie zu weit gegangen!“, blaffte Rektor Bachmann von der anderen Seite des Tisches. Sein Gesicht war wie aufgeplustert, er stand unter Strom. Vielleicht bezog er seine Wut ja aus den Akkus der Windkraftwerke? Verdammt, es konnte sein. Manchmal glaubte ich, Rektor Bachmann sei für sein Dasein als Roboter einen Ticken zu menschlich.

„Es tut mir leid.“, sagte ich. „Ich hab ganz vergessen, dass die Windkraftwerke jemanden gehören. Daran hätte ich denken müssen.“

„Ach, wie schön, dass Ihnen der Gedanke jetzt gekommen ist! Jetzt ist es zu spät, Mann! Sie haben Privateigentum im Wert von zwanzigtausend Euro beschmiert. Wer darf das alles bezahlen?“

Eine rhetorische Frage. Ich ging nicht darauf ein.

„Wissen Sie was?“, fragte Bachmann. „Sie sind gemeingefährlich. Sie gehören hier nicht hin. Ich will gar nicht erst daran denken, wie viel sie uns schon gekostet haben, und von Kindern haben sie offensichtlich keine Ahnung.“

„Ich mag die Kinder.“, sagte ich. „Von denen kann ich so viel lernen.“

„Vergessen Sie‘s! Werden Sie selbst erstmal erwachsen, bevor sie mit Kindern zu tun haben. Ist doch nicht zu fassen!“

Ab hier steigerte sich die Standpauke des Rektoren zu einem flammenden Inferno. Für sein Gerede über Disziplin und Konformismus konnte ich mich dennoch nicht erwärmen — nicht im geringsten. Meine Einstellung zu den Dingen war eine andere, und sicherlich war sich Rektor Bachmann darüber im Klaren, doch war ihm das in diesem Moment nicht vom Interesse. Vom Interesse war ihm lediglich, dass er mir meine Kündigung mit Schmackes auf den Tisch knallen konnte. Mit besten Grüßen der dienstleitenden Stelle der E.-Musk School im Geniusdistrikt 9.

Nun bin ich also arbeitslos. Tja, weswegen eigentlich? Ich wollte der Stadt einen Hauch von Farbe verleihen. Ob es sich gelohnt hat? Ja, es hat sich gelohnt. Jeder Blick in den Himmel lohnt sich. Der Wind ist ein Kunstwerk, ein buntes Chaos kreativer Energie. Und was die fliegenden Kraftwerke betrifft: Ich sehe sie jeden Tag, wenn ich nach oben sehe, wie sie in allen Farben und Formen meiner ehemaligen Schüler über die Dächer gleiten und den Menschen dieser Stadt zeigen, was Kunst bedeuten kann.

Von meinen Schülern habe ich schon lange nichts mehr gehört. Ich frage mich, was sie heute wohl machen.

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